Von Markus Boden
Irgendwo angesiedelt im ultrabreiten Spektrum zwischen Bodenrakete und Familientraum hat der Power-Kombi nur einen ernsthaften Konkurrenten - sich selbst. Das führt von Facelift zu Facelift zu immer erstaunlicheren Ergebnissen mit der Gleichung: Weniger ist mehr. Gegenüber seinem Vorgänger mit dem V10-Triebwerk fehlen dem aktuellen Asphaltgeschoss zwei Zylinder und die Kraft von 20 Galoppern. Aber trotz des PS-Verlustes sieht das alte Modell dort alt aus, wo die einzige Wahrheit liegt - auf der Straße.
Wie schafft er das bloß? Unter den Audi-Ingenieuren sind überzeugte Anhänger der Wightwatcher zu vermuten. Ein paar Leichtbauteile hier, weg mit überflüssigen Pfunden da, schon waren satte 100 Kilogramm runter. Klingt leichter, als es war. Denn Gewicht zu sparen ist eine Herausforderung, die bei jedem Modell die Köpfe der Autobauer neu rauchen lässt. Und sie ist auch nur ein Teil der Wahrheit, weshalb der immer noch knapp über zwei Tonnen wiegende RS6 etwa einem Porsche 997 Turbo in der Beschleunigung bis 200 km/h die Hölle heißt macht. 3,5 Sekunden auf Hundert sind `ne echte Ansage, 12,2 Teilchen einer Minute ein fettes Ausrufezeichen. Das Geheimnis dahinter klingt simpler, als es sich anhört: Eine ausgefeilte Aerodynamik in Kooperation mit einer perfekten Launch Control und dem permanentem Allradantrieb sorgen für die optimale Traktion.
Wer braucht so ein Auto? Gegenfrage: Wer braucht einen teueren Füllfederhalter, wenn's ein Werbegeschenk-Kuli auch tut? Brauchen im Sinne der Lebensnotwendigkeit ist also der völlig falsche Ansatz. Erst recht, wenn es wie beim RS6 Avant um automobile Kunstwerke geht, für deren entsprechende Anschaffung Sümmchen jenseits der einhunderttausend Euro hinzublättern sind. Für diejenigen unter uns, die dafür nicht ihre Lebensversicherung verkaufen müssen, ist dieser faszinierende Tiefflieger durchaus eine Option. Vor allem, wenn Sportsgeist und Understatement zu den herausragenden Charaktereigenschaften zählen. Wenn dann noch das Kind im Manne drinsteckt, das sich diebisch über offen stehende Münder im Straßenverkehr freuen kann, ist der stärkste Avant unter Bayerns Sonne (der allerdings im schwäbischen Neckarsulm gebaut wird) die einzig wahre Entscheidung.
Stimmt die Optik? Für jene, die schlichte Eleganz Lichtjahre entfernt von Aufsehen erregendem Protz für die einzig wahre Form des Luxus halten, ist die Erscheinung des RS6 Avant eine Augenweide. Aber machen wir uns nichts vor: Wer ihn mit einem Sechser-Avant von der Stange verwechselt, ist mit Blindheit geschlagen. Dies gilt vor allem für die Heckansicht, einem Musterbeispiel für Purismus: Dicke, aber dennoch dezente Backen über den breiten Walzen, und akzentuierte eckige Kanten im Shape als harmonischer Kontrast zu den beiden dicken, runden Endrohren rechts und links. Und vorne? Fallen vor allem die mächtigen Lufteinlässe über dem vergleichsweise dezent wirkenden Spoiler auf. Dazu die LED-Lichterreihen und der dominante, nach unten gezogene Audi-Grill. That's it. Fast. Denn zur Gesamtoptik gehört natürlich die Art und Weise, wie tief und satt das Teil auf der Straße sitzt. Allzeit bereit.
Wie fährt sich der Dampfhammer? Die wenigsten unter den beneidenswerten RS6-Ownern werden diese Frage bezüglich des Extrembereichs beantworten können oder wollen. Wer sich mit diesem Auto freiwillig in physikalische Grenzbereiche begibt, sollte schon die eine oder andere fahrerische Fortbildungsmaßnahme hinter sich gebracht habe. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist das Handling nahezu perfekt, und wir meinen damit ausdrücklich das Verhalten in kurvenreichen Landschaften. Geradeaus hatte der RS6 noch nie Probleme, auch jetzt in der Version mit dem Dynamok Kit nicht, die auch bei 305 km/h stoisch die Spur hält. Vorsprung durch Allrad sei Dank.
Ist er sein Geld wert? Schon wieder so eine miese, subjektive Frage. Auf die es nur die eine, wahre, knappe, begeisternde Antwort gibt: Yes! Mit Tränen der Sehnsucht werden ihn alle, die ihn Probe fahren durften und ihn sich nicht leisten können, wieder abstellen. Sich vermutlich im Zeitalter der Niedrigzinsen intensiv zumindest mit der theoretischen Möglichkeit einer Anschaffung beschäftigen. Während diejenigen, die eine vernünftige Frau an ihrer Seite überzeugen müssen, nur dezent auf das Ladevolumen von bis zu 1680 Liter hinzuweisen brauchen ("Schatz, damit können wir die Waschmaschine und den Trockner gleichzeitig zur Reparatur bringen!"). Die - vermeintlich schlechtere - Alternative ist, sie selbst ans Steuer zu lassen.
Fakten, Daten und Zahlen gefällig? Audi RS6 Avant: Motor V8-Zylinder, Hubraum 3.993 ccm, Leistung 412 kW (560 PS) bei 5.700 - 6.700 U/min., Max. Drehmoment 700 Nm bei 1.750-5.500 U/min., Allradantrieb, 8-Gang-Automatikgetriebe "tiptronic", Kofferraum 565-1.680 l, Tank 75 l, 0-100 km/h 3,9 Sek., Höchstgeschwindigkeit 250 km/h (abgeregelt), Verbrauch ca. 14 l/100 km. Preis: ab 107.900 Euro.