TEXT: Jürgen Zöllter FOTOS: Paul Barshon & Patrick Gosling
Das Rennen schauen wir uns mal etwas genauer an Am besten begegnet man Ron Dennis so, wie man sich einem Kaktus nähert - distanziert. Denn der Brite versprüht den unnahbaren Charme royaler Gesinnung. Tatsächlich bündelt Dennis völlig emotionslos die geballte Kompetenz seines britischen Rennstalls, um das Marken-Label McLaren zukunfsfähig zu feilen. In vergleichÂbarer Weise gelang das bisher nur einem: dem legendären Enzo Ferrari. Der italienische Patriarch finanzierte seine Rennsportleidenschaft von Anfang an über den Verkauf von automobilen Kunstwerken mit Straßenzulassung.
Nicht so Ron Dennis. Er steigt erstmals 1994 mit dem BMW-MittelÂmotor befeuerten Supersportwagen McLaren F 1 ins Geschäft mit Endkunden ein. Der DreiÂsitzer wird nur in homöopathisch kleinen Do- sen gefertigt und gilt noch heute als Maßstab für TÜV-geprüfte Sportler mit Rennsportgenen. Einen zweiten Versuch wagt Ron Dennis im Jahre 2004 mit dem damaligen F 1-Partner Mercedes-Benz. Diesmal ist die Kleinserie zu optimistisch projektiert. Der Mercedes SLR McLaren verwöhnt seine Kunden mehr mit Komfort- und Sicherheitsausstattung nach Mercedes-Art als mit Fahrdynamik auf McLaren- Niveau. So hatte Dennis bereits zum Kleinserienanlauf die Nase voll.
Nach 169 Formel-1- Siegen und 12 Fahrerweltmeisterschaften wird McLaren nun erstmals Hersteller für straßenÂtaugliche Boliden nach dem Geschmack seiner britischen Herrlichkeit. Von Fiat warb er den Produktionsexperten Antony Sheriff an, der eine Sportwagenschmiede für bis zu 4 000 Einheiten jährlich entwirft. Keine Bastelbude in der britischen Tradition von Morgan, TVR und Bristol, sondern eine neue High-Tech-Klinik neben dem futuristisch gestalteten McLaren-Hauptquartier im briÂtischen Woking. Beide Komplexe entwarf Stararchitekt Norman Foster, und Ron Dennis schwärmt: „Wir bauen den besten Sportwagen seiner Preisklasse im effizientesten AutomobilÂwerk der Welt.“
Tatsächlich sitzen McLaren-Kunden, anders als im Ferrari 458 Italia, Lamborghini Gallardo und Porsche GT 2, in der Geborgenheit eines extrem verwindungssteifen, weniger als 80 KiloÂgramm leichten Kohlefaser-Monocoques nach F 1-Manier. Es verleiht dem Sportwagen RückÂgrat und sollte stärkstes Kaufargument sein. An ihn werden - ähnlich wie beim zehnmal so teuren Bugatti Veyron, leichte Alu-Rahmen angeschraubt, die hinten den kompakten 3,8- l-V 8-Biturbomotor tragen und vorn die KühlÂaggregate sowie eine Kofferabteil. Diese extrem leichte Bauweise verhilft dem Zweisitzer zu 1 434 Kilo Fliegengewicht. Der erste Augenkontakt mit dem neuen McLaren MP4-12C erzeugt kein Herzklopfen. Seine Front wirkt schlichter als die verschrobene Modellbezeichnung verheißt: MP4 steht für McLaren Projekt 4, die Ziffer 12 ist Index einer internen Rangordnung des UnternehÂmens und C steht fürs Carbonfibre-MonocoÂque. Bitte mitschreiben, falls ein Hotelportier mal danach fragen sollte. Die Karosserie des Zweisitzers mit nach vorn oben schwingenden Türen folgt ausschließlich aerodynamischen Zwängen, wirkt daher beliebig und könnte auch einen Lotus kleiden. Besonders die Front besitzt kein prägendes Gesicht. Ein VW Scirocco wirkt markanter. Elektrisch stellt man Sportsitze und AußenÂspiegel ein, eine leichtgewichtige Lithium- Ionen-Batterie liefert den Saft zum Starten des eigens entwickelten und bei Ricardo in England gebauten V8-Aggregats. Es schnurrt im Leerlauf unspektakulär und bleibt auch beim Tritt aufs Gas relativ unaufgeregt. Einzig im Race-Modus der Fahrdynamikregelung sägt es kehlig und lässt Gänsehaut sprießen.
Über einen kleinen Drehschalter in der MittelÂkonsole wählt man Normal, Sport oder Track der adaptiven Fahrwerksdämpfung vor. Warum man den Schalter zuvor aktivieren muss, bleibt unklar. Die Vorzüge des Dämpfungssystems werden bereits in den ersten Kurven erfahrbar: Der neue McLaren spurt wie auf Schienen. WähÂrend die Räder über konventionelle Doppel-querlenker-Achsen mit Schraubenfedern geführt werden, erfolgt die Dämpfung über ein neuarÂtiges, jedes Rad einzeln ansteuerndes, jedoch mitÂeinander korrespondierendes Hydrauliksystem. Es kommt ohne mechanisch wirkende StabilisaÂtoren aus, hält die Karosserie bei schnellem RichÂtungswechsel in idealer Balance und gleicht Lastwechselreaktionen unmittelbar aus. Der Vorteil des hydraulischen Systems liegt in der außergeÂwöhnlichen Spreizung der Kennfelder. Bleibt der Sportler auf der Rennstrecke straff und sehr präÂzise zu führen, rollt er im Normal-Modus über holprige Dorfstraßen so komfortabel ab, wie keiÂner seiner Konkurrenten. Vergleichsweise gemächlich nimmt der McLaren Geschwindigkeit auf. Erst über 3 000 TouÂren spricht der Motor spontan an, darf jetzt auch kräftiger klingen. Mit dem gewaltigen DrehmoÂment von 600 Newtonmeter zwischen 3 000 und 7 000 Touren macht der Turbomotor seine Bauart bedingte Durchzugsschwäche darunter wett. Dazu wechselt das Doppelkupplungsgetriebe die Gänge schneller, als man denken kann. Um 5 000 Touren herum hängt der McLaren wie ein SuperÂbike am Gas und verlangt vom Piloten größtmögÂliche Disziplin. Wo der Schalter zum Deaktivieren des ESP liegt, wollen wir wissen. Doch Antony Sheriff schweigt. Ihn werde nur der Besitzer eines MP4-12C kennen, erklärt er schließlich. Das 3,8-l-V8-Aggregat entfacht für einen niedrigen Schwerpunkt des Fahrzeugs sein Feuer tief unten in Mittellage. Es atmet durch zwei Turbolader mit Ladeluftkühlung, um bis zu 600 PS bei 8 000 Touren bereitzustellen. Im DurchÂschnitt verköstigt es 12,9 l/100 km/h, wie McLaren sagt. Ein Ferrari 458 Italia schluckt 13,3 und ein Mercedes-Benz SLS AMG 13,2 l/100 km. Es geht um Sparsamkeit auf hohem Niveau! Allerdings reden wir hier nicht von Menschen, die ihre teurere Kuh gern mal fliegen lassen. Da fließen die Liter so schnell durch die Brennkammern wie das Guinness bei einem durstigen Engländer durch die Kehle und das bei den Herstellern so beliebte Vorgaukeln von Sparsamkeit entpuppt sich spätestens beim nächsten Tankstopp als Benzinmärchen. Wer aber gut 200 Mille für ein Auto ausgibt, denkt wohl zu allerletzt ans Sparen. Davon darf man getrost ausgehen.
Einen komplett neu entwickelten Sportwagen jährlich nur tausendmal zu verkaufen, dürfte das vergleichsweise kleine Unternehmen McLaren Automotive bald in Finanznot treiben. Deshalb bohrt McLaren nach weiteren EinnahmequelÂlen. Zunächst ist geplant, die Entwicklungskosten des MP4-12C auf vier Modelle umzulegen. Schon 2012 wird das Kohlefaser-Monocoque modifizierte Aluminium-Strangguss-Profile des Supersportwagens MP4-14C tragen, der mit einem auf zehn Zylinder erweiterten Triebwerk rund 800 PS leistet. Er soll würdiger Nachfolger des dreisitzigen McLaren F1 werden. 12 C und 14 C sollen außerdem Schwestermodelle mit Faltdach bekommen. Zudem sind Wettbewerbsversionen für Rundsstreckenrennen geplant, die seltene und sehr teure straßentaugÂliche Ableger hervorbringen.
Analog zur Formel 1 möchte Ron Dennis dem Erzrivalen Ferrari nun auch auf der Straße Paroli bieten. Damit ihm das gelingt, muss der MP4- 12 C den Club der Hochleistungssportler als Intelligenzbolzen im grünen Mäntelchen betreÂten. Dort ist der Platz des Herzensbrechers schon an den Ferrari 458 Italia vergeben und der des Perfektionisten an den Mercedes-Benz SLS AMG. Beide Rivalen mit der technischen Präzision des MP4-12C zu schlagen, ist das Ziel. Und dies ohne ein Fünkchen Schrulligkeit, dem Überlebenselixier des britischen Empires? Ron Dennis hebt den rechten Mundwinkel: Wenn es um das Geschäft geht, ignoriert er gern britisches Kulturgut. Ein Schachzug, der ihn daheim vielÂleicht weniger sympathisch, international aber umso erfolgreicher macht.
Straßen-Formel 1 in Zahlen
McLaren MP4-12C
Motor V8-Biturbo-Benzinmotor
Hubraum 3799 ccm
Leistung 441 kW (600 PS) bei 7 000 U/min Max.
Drehmoment 600 Nm bei 3 000-7 000 U/min
Getriebe 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe
Maße L/B/H: 4507/ 1909/ 1199 mm
Radstand 2670 mm
Leergewicht 1434 kg
Tankkapazität 72 Liter
Preis 200 000 Euro